Herr Goebbels, im August eröffnen Sie Ihre Intendanz der Ruhrtriennale mit John Cages fast nie gespieltem Opus Magnum „Europeras 1 + 2“. Die Inszenierung wird eigentlich vom Zufallsgenerator eines chinesischen Orakels geleistet. Aber Sie haben einmal gesagt, anders als Cage überließen Sie nichts dem Zufall. Das war gelogen . . . Das war gelogen? Na ja, ich bin nicht so ein Zufalls-Taliban wie Cage. Aber auch er hat sehr wohl gewusst, welche Fragen er dem Orakel stellt und welche nicht - und sich auch nicht immer an die Antworten gehalten. Aber tatsächlich gibt es in meiner Arbeit viele Elemente, die ohne Zufall nicht denkbar gewesen wären: Ein Sänger wird krank, sagt ab, und der Ersatz, der zufällig Zeit hat, ist dann die ideale Besetzung. Oder die Performer, mit denen ich an einem Stück arbeite, tragen alle zufällig dieselben Vornamen wie die Personen in den Texten von Kierkegaard und Robbe-Grillet, die ich herausgesucht habe. Zufall? Egal - dadurch habe ich Vertrauen in den Zufall entwickelt. Fast warte ich ein bisschen darauf, dass er mir im letzten Moment zu Hilfe kommt. Wenn etwas während einer Probe herunterfällt und ich das Geräusch mag, nehme ich es in die Komposition mit auf. Bei der Arbeit an den Hörstücken habe ich gelernt, dass auch das Tonstudio ein Instrument ist - und dass durch eine Rückkopplung, ein zu weit aufgedrehtes Hallgerät, ein rückwärts laufendes Tonband plötzlich Klänge entstehen, von denen man vorher nicht einmal geträumt hat. Und das Leben ist natürlich ein noch viel größeres Studio, mit viel weitreichenderen Möglichkeiten für den Zufall: dass mir plötzlich jemand über den Weg läuft, mit dem ich arbeiten möchte, ich ein Buch an der richtigen Stelle öffne, dass ein Vogel schreit, oder die Handwerker bohren, während ich komponiere. Im Entstehungsprozess spielen jedenfalls unbewusste Prozesse eine riesige Rolle. Und in denen wütet der Zufall. Er hat bei mir eine große Chance, weil ich nie versuche, eine Vision gegen alle Widerstände durchzusetzen. Und in der Aufführung selbst? Spielt der Zufall da auch noch eine Rolle? Ist am Premierenabend von „Europeras“ noch Raum für unvorhergesehene Variationen? Nein, das wäre zu gefährlich, das war auch bei Cage nicht so. Da fallen Bühnenbilder um, da rennen Leute durch die Halle. Aber die verschiedenen Gewerke arbeiten zunächst unabhängig voneinander: Klaus Grünberg, der Bühnenbildner, hat aus Archiven von Bühnenbildskizzen, Gemälden, Fotografien aus der Operngeschichte 32 Bilder gewonnen, die wurden den Gegebenheiten der Bochumer Jahrhunderthalle angepasst und in eine zufällige Reihenfolge gebracht: ein Felssturz, eine Säulenhalle, ein Sonnenuntergang, der Dogenpalast, Wald, Wolken, eine Barockkulisse . . . Diese Bilder werden während der Vorstellung auf- und abgebaut, die Sänger ziehen sich auf der Bühne um, man sieht, wie sie ihre Perücken aufsetzen und geschminkt werden. Man schaut in die Opernmaschine hinein wie in eine Großbaustelle. Noch weiß niemand, wie das am Ende zusammen aussehen und klingen wird. So entsteht aus dem Fundus der europäischen Operngeschichte etwas ganz Neues. Und diese Trennung der Elemente kommt meiner eigenen Ästhetik sehr entgegen: die Materialien aus ihren alten Kontexten zu befreien und sie in neue Zusammenhänge zu bringen. Wir arbeiten seit anderthalb Jahren daran, und ich freue mich sehr darauf, das zu erleben. Es ist eine Oper der Wandlungen und das radikalste Opernkonzept, das ich kenne. Beim Zufall haben Sie also, wie Sie sagen, gelogen. Wie sieht es mit der Schönheit aus? Sie haben einmal, als mächtiges Schlusswort in einem Gespräch, gesagt: Es darf ruhig auch schön sein. Das ist heutzutage eine mutige Aussage. Weil Sie gleichzeitig Kunst und Kultur immer auch gesellschaftlich definieren, versteht sie sich bei Ihnen auch nicht von selbst. Zur Schönheit stehe ich. Ich beziehe damit auch bewusst eine Position gegen ein Theater, das sich darin erschöpft, Klischees zu zeigen, um angeblich kritisch zu sein, Figuren zu denunzieren, als würde es uns irgendwie weiterbringen, uns über sie lustig zu machen. Da hat der eine zu kurze Hosen an, und die andere schreit hysterisch herum. Das interessiert mich alles überhaupt nicht. Mich interessiert etwas mit einer utopischen Dimension, etwas, das Rätsel bleibt. Und die Utopie liegt in der Form, hat Heiner Müller gesagt. Vielleicht auch mal in der Farbe. Der erste Teil meines Stücks „I Went to the House But Did Not Enter“ zum Beispiel ist nur grau; aber in vielen verschiedenen Abstufungen und Nuancen von Grau: im Bild, im Licht, in den Kostümen. Die Schönheit des Grau. Damit kann sich das Auge eine Weile sinnvoll beschäftigen.
dimanche 15 juillet 2012
Wie politisch ist das Schöne, Herr Goebbels?
Herr Goebbels, im August eröffnen Sie Ihre Intendanz der Ruhrtriennale mit John Cages fast nie gespieltem Opus Magnum „Europeras 1 + 2“. Die Inszenierung wird eigentlich vom Zufallsgenerator eines chinesischen Orakels geleistet. Aber Sie haben einmal gesagt, anders als Cage überließen Sie nichts dem Zufall. Das war gelogen . . . Das war gelogen? Na ja, ich bin nicht so ein Zufalls-Taliban wie Cage. Aber auch er hat sehr wohl gewusst, welche Fragen er dem Orakel stellt und welche nicht - und sich auch nicht immer an die Antworten gehalten. Aber tatsächlich gibt es in meiner Arbeit viele Elemente, die ohne Zufall nicht denkbar gewesen wären: Ein Sänger wird krank, sagt ab, und der Ersatz, der zufällig Zeit hat, ist dann die ideale Besetzung. Oder die Performer, mit denen ich an einem Stück arbeite, tragen alle zufällig dieselben Vornamen wie die Personen in den Texten von Kierkegaard und Robbe-Grillet, die ich herausgesucht habe. Zufall? Egal - dadurch habe ich Vertrauen in den Zufall entwickelt. Fast warte ich ein bisschen darauf, dass er mir im letzten Moment zu Hilfe kommt. Wenn etwas während einer Probe herunterfällt und ich das Geräusch mag, nehme ich es in die Komposition mit auf. Bei der Arbeit an den Hörstücken habe ich gelernt, dass auch das Tonstudio ein Instrument ist - und dass durch eine Rückkopplung, ein zu weit aufgedrehtes Hallgerät, ein rückwärts laufendes Tonband plötzlich Klänge entstehen, von denen man vorher nicht einmal geträumt hat. Und das Leben ist natürlich ein noch viel größeres Studio, mit viel weitreichenderen Möglichkeiten für den Zufall: dass mir plötzlich jemand über den Weg läuft, mit dem ich arbeiten möchte, ich ein Buch an der richtigen Stelle öffne, dass ein Vogel schreit, oder die Handwerker bohren, während ich komponiere. Im Entstehungsprozess spielen jedenfalls unbewusste Prozesse eine riesige Rolle. Und in denen wütet der Zufall. Er hat bei mir eine große Chance, weil ich nie versuche, eine Vision gegen alle Widerstände durchzusetzen. Und in der Aufführung selbst? Spielt der Zufall da auch noch eine Rolle? Ist am Premierenabend von „Europeras“ noch Raum für unvorhergesehene Variationen? Nein, das wäre zu gefährlich, das war auch bei Cage nicht so. Da fallen Bühnenbilder um, da rennen Leute durch die Halle. Aber die verschiedenen Gewerke arbeiten zunächst unabhängig voneinander: Klaus Grünberg, der Bühnenbildner, hat aus Archiven von Bühnenbildskizzen, Gemälden, Fotografien aus der Operngeschichte 32 Bilder gewonnen, die wurden den Gegebenheiten der Bochumer Jahrhunderthalle angepasst und in eine zufällige Reihenfolge gebracht: ein Felssturz, eine Säulenhalle, ein Sonnenuntergang, der Dogenpalast, Wald, Wolken, eine Barockkulisse . . . Diese Bilder werden während der Vorstellung auf- und abgebaut, die Sänger ziehen sich auf der Bühne um, man sieht, wie sie ihre Perücken aufsetzen und geschminkt werden. Man schaut in die Opernmaschine hinein wie in eine Großbaustelle. Noch weiß niemand, wie das am Ende zusammen aussehen und klingen wird. So entsteht aus dem Fundus der europäischen Operngeschichte etwas ganz Neues. Und diese Trennung der Elemente kommt meiner eigenen Ästhetik sehr entgegen: die Materialien aus ihren alten Kontexten zu befreien und sie in neue Zusammenhänge zu bringen. Wir arbeiten seit anderthalb Jahren daran, und ich freue mich sehr darauf, das zu erleben. Es ist eine Oper der Wandlungen und das radikalste Opernkonzept, das ich kenne. Beim Zufall haben Sie also, wie Sie sagen, gelogen. Wie sieht es mit der Schönheit aus? Sie haben einmal, als mächtiges Schlusswort in einem Gespräch, gesagt: Es darf ruhig auch schön sein. Das ist heutzutage eine mutige Aussage. Weil Sie gleichzeitig Kunst und Kultur immer auch gesellschaftlich definieren, versteht sie sich bei Ihnen auch nicht von selbst. Zur Schönheit stehe ich. Ich beziehe damit auch bewusst eine Position gegen ein Theater, das sich darin erschöpft, Klischees zu zeigen, um angeblich kritisch zu sein, Figuren zu denunzieren, als würde es uns irgendwie weiterbringen, uns über sie lustig zu machen. Da hat der eine zu kurze Hosen an, und die andere schreit hysterisch herum. Das interessiert mich alles überhaupt nicht. Mich interessiert etwas mit einer utopischen Dimension, etwas, das Rätsel bleibt. Und die Utopie liegt in der Form, hat Heiner Müller gesagt. Vielleicht auch mal in der Farbe. Der erste Teil meines Stücks „I Went to the House But Did Not Enter“ zum Beispiel ist nur grau; aber in vielen verschiedenen Abstufungen und Nuancen von Grau: im Bild, im Licht, in den Kostümen. Die Schönheit des Grau. Damit kann sich das Auge eine Weile sinnvoll beschäftigen.
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